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Gendern: Training für's Gehirn

Illustrationen: JUstus körtgen

Warum Gendern so nervt:

Über neuronale konzepte und wie wir die Kontrolle über unser Denken gewinnen.

Gendern ist unpraktisch. Stimmt. Vollkommen richtig. Gendern ist kompliziert anzuwenden, es irritiert unseren Lesefluss und verleiht unserer Sprache eine gewisse Unhandlichkeit. Alles richtig.

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All den Menschen, die heute über die Unbequemlichkeit geschlechtersensibler Sprache jammern (inklusive mir selbst), kann ich jedoch nur eines entgegnen: Während sich unsere Neuronen neu ordnen, erfahren wir viel mehr als nur Fitnesstraining fürs Gehirn: Wir gewinnen Selbstermächtigung über unser Denken.

Wir sind nicht fauL.

Unser Hirn ist schuld.

Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich immer und zu jeder Zeit gendersensible Sprache benutze. Es gibt Momente, da benutze ich den Partikel "man" oder das "*innen" an einer Personenbezeichnung verliert sich irgendwo zwischen meinem guten Willen und meinen Stimmbändern. Das passiert mir vor allem, wenn ich mit Menschen im Gespräch bin, die selbst nicht gendern. Und das ist nicht nur okay, sondern auch neurolinguistisch erklärbar. Und nicht nur das: Wir dürfen davon ausgehen, dass uns das Gendern irgendwann so leicht wie Puderzucker von der Zunge stäubt.

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Klar, aller Anfang ist schwer. Wir sind mehrmals auf die Nase gefallen, als wir laufen gelernt haben, blamierten uns bei unserem ersten Mal mit einem falsch aufgezogenen Kondom (vorausgesetzt wir hatten Sex mit einem Menschen mit Penis oder waren selbst ein Mensch mit Penis) und trennten mindestens einmal die Weiß- und Buntwäsche nicht richtig, bis wir eingesehen haben, dass Mama (ja, leider Mama und nicht Papa) doch recht hatte mit ihrer peniblen Trenn-Methode und alle ungeplant hellrosa Kleiderschrankstücke aussortierten.

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Laufen, Vögeln, Wäschewaschen – alles tun wir trotz der Anfangsschwierigkeiten unser Leben lang. Und wahrscheinlich auch viel besser als zu Beginn. So ist es auch mit Sprachveränderungen. Sogar mit einer so plötzlichen und umfassenden Änderung in unserem Sprachsystem wie Geschlechtersensibilität. Wir können darauf vertrauen, dass es leichter werden wird. Für uns und vor allem für die Generationen nach uns. Wir, als die Generation, die das jetzt neu lernen muss, haben leider die A-Karte gezogen in diesem Spiel. Aber: Klimakrise, ausgelaugte Böden, Welthunger, Atombomben – wir hinterlassen unseren folgenden Generationen ziemlich viele A-Karten. Da können wir ihnen wenigstens diese eine ersparen.

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Aber erst mal fällt es schwer. Warum eigentlich? Um es noch ein bisschen umständlicher zu machen geht es nämlich nicht nur um das Erlernen von neuen Sprach-Regeln, sondern auch um das Erlernen von neuen Konzepten. Denn ohne die können wir ohnehin nichts verstehen. Konzepte sortieren unser Weltwissen und sorgen dafür, dass wir die seltsamsten Laut-Aneinanderreihungen (Wörter, Sätze, Texte,...) mit Bedeutung füllen. Und dafür braucht es Training. Hirntraining. Fitnessstudio für den Kopf. Denn wie euer Sixpack und Bizeps kann euer Gehirn wie ein Muskel ganz physisch (um-)trainiert werden.

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Wie entstehen Konzepte?

Neuronen, bildet Banden!

Zunächst stellt sich folgende Frage: Wieso ist es so schwer für uns, in unserer Sprache vom generischen Maskulinum abzuweichen? Wir haben schließlich mehrere Geschlechterkonzepte: männlich, weiblich und mindestens noch intergeschlechtlich.


Dass wir überwiegend im Maskulinum kommunizieren, hat neben unserer historischen Sprachentwicklung auch neuronale Gründe: Das Konzept, das wir häufiger abrufen und besonders nach dem wir aktiv handeln, ist physisch stärker in unserem Gehirn ausgeprägt. Denn es verfügt über mehr neuronale Verbindungen in unserem Gehirn, als Konzepte, nach denen wir nur selten handeln oder die wir seltener abrufen.[i] Das würde also bedeuten, dass das Maskulinum über mehr neuronale Verbindungen in unserem Hirn verfügt als das Femininum. Das Patriarchat hat also dafür gesorgt, dass der Teil unseres Gehirns, der „maskulin“ denkt, eine Hirnfitnessstudio-Flatrate bekommen hat und fleißig seine Muckis aufbaut. Darum sagen wir zu der Frau, die neben uns wohnt, trotzdem „Nachbar“, obwohl dieses Genus hier ganz klar semantisch falsch ist.


Das mit den Konzepten läuft so: Bei jeder unserer Wahrnehmung werden Neuronen aktiviert. Wenn wir verschiedene Dinge gleichzeitig wahrnehmen, z.B. einen Geruch (oder mehrere Gerüche) gemeinsam mit einer Bewegung und einer Emotion, verstärken diese gleichzeitig aktivierten Neuronen von Geruch, körperlicher Wahrnehmung und Emotion ihre Verbindung untereinander und werden zu einer funktionellen Einheit, zu einer so genannten „Cell Assembly“[ii]. Beispielweise denke ich immer automatisch an Weihnachten, wenn ich den Duft von frisch gebackenem Zimt-Gebäck in der Wohnung rieche. „Zimt“ und „frisches Gebäck“ verbinde ich (und vermutlich auch die meisten anderen Menschen im christianisierten Europa) automatisch mit der Weihnachtszeit, weil beides zu dieser Zeit gehäuft vorkommt. Dabei war nur Jo aus Hamburg zu Besuch, die Partnerin meines Mitbewohners, die Franzbrötchen buk. Mitten im Sommer.


Es genügt also offenbar nur einen Teil der Neuronen-Einheit, der Cell Assembly, zu aktivieren, um die gesamte Neuronen-Einheit automatisch mit zu aktivieren. Und Zimt wird zu Weihnachten, in dessen gesamten konzeptionellen Bandbreite. Diese immer wiederkehrende und gleichzeitige Aktivierung von bestimmten Neuronen wird „Hebbian Learning“ (oder „Hebb’sches Lernen“)[iii] genannt. Mit der immer wieder kehrenden Aktivierung dieser neuronalen Einheit entwickelt sich mit der Zeit ein automatischer, leicht aktivierbarer Schaltkreis im Gehirn. Das bedeutet, dass gleichzeitige Aktivierungen, die wieder und wieder passieren – wie z.B. Zimtgebäck jedes Jahr an Weihnachten wiederkommt und das mehrere Jahre lang – viel leichter aufploppen, als neuronale Aktivierungen, die nur selten gleichzeitig passieren. Und das erstrecht, wenn wir sie in unser Handeln mit einbeziehen. Der Folgeschluss von Wehling:
 

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Wenn wir also das Bild einer diversen und vielfältigen Gesellschaft zur Grundlage unseres Denkens machen wollen, müssen wir anfangen von und über Menschen zu sprechen, die nicht in unsere binäre, weiße, heterosexuelle Norm passen. Darum ist es beispielsweise auch so wichtig, dass wir von „Afrodeutschen“ und „weißen Deutschen“ sprechen und nicht so tun, als würden wir keine Hautfarben sehen und als hätten diese Hautfarben keinen Einfluss auf unseren Umgang mit Menschen. Solange unsere Norm von „deutschsein“ noch „weißsein“ ist, müssen wir „deutschsein“ und „schwarzsein“ aktiv miteinander in Verbindung bringen, sonst kann unser Gehirn dieses Bild einer vielfältigen deutschen Gesellschaft nicht aktivieren. Was nicht benannt wird, existiert in unserem Kopf nicht. Was die Folge davon ist, nennt die kognitive Linguistik „Hyperkognition“[v]: Das Phänomen, dass Ideen nicht existent sind oder wegfallen, weil wir keine sprachliche Umsetzung dieser Ideen haben.

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Cell Assembly Justus Körtgen

weiße, deutsche cis Typen, die im Kaufhaus das Klo putzen:

Konzepte ändern und aufbauen

Ein Konzept zu STÄRKEN ist das eine. Aber das ist nur die halbe Miete. (Wir wollen schließlich nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei.) Es geht auch darum, Konzepte zu VERÄNDERN. Und noch mehr: Für eine gesellschaftliche Akzeptanz von diskriminierten oder marginalisierten Gruppen geht es auch darum, neue Konzepte aufzubauen. Und stellt euch vor: Das ist möglich. Ich könnte mir theoretisch auch abtrainieren an Weihnachten zu denken, wenn ich Zimt rieche. Z.B. wenn ich mir ein Spülmittel mit Zimtgeruch zulege und es täglich benutze, dann werde ich vermutlich Zimtgebäck künftig zuerst mit dem Abwasch assoziieren (aber ich glaube nicht, dass ich das möchte).


Wie genau lässt sich das auf gesellschaftliche Diversität übertragen? Zum Beispiel wird eine positive Belegung von „migrantisch“ nicht möglich sein, wenn wir dieses Attribut immer nur dann hören, wenn die Stimme aus dem Radio von einer Messerstecherei erzählt. So bleibt unseren Neuronen nichts anderes übrig, als eine Einheit von „kriminell – gefährlich – arabischer Herkunft“ (oder so) zu bilden. Vor allem, wenn in anderen positiven Erzählungen das Attribut „migrantisch gelesen“ fehlt. Berühmte Film- oder Romanfiguren, die schließlich einen großen Teil unserer kulturellen Identität ausmachen, sind durchgehend weiß. Wann habt ihr das letzte Mal einen Blockbuster geschaut, in dem eine migrantisch gelesene Person die Hauptrolle spielt (und damit meine ich die Haupt-Hauptrolle und nicht den:die beste:n Freund:in der Hauptrolle), ohne dass das Thema des Blockbusters Ausländerfeindlichkeit, Ghetto-Dasein oder Bandenkriminalität war? Eben. Stattdessen regen sich Menschen darüber auf, als ginge es um ihr Leben, dass jetzt die neue Amazon-Herr-Der-Ringe-Serie plötzlich mit People of Color (PoC) besetzt wird – wobei sogar hier der Großteil der Hauptfiguren weiß ist. Ich finde es eher extrem peinlich, dass es zuvor anscheinend keinem Menschen aufgefallen war (inklusive mir), wie unlogisch das eigentlich ist, dass in einer Fantasy-Welt alle Wesen weiß sein sollen, nur weil diese Fantasy-Welt von einem weißen Typen erfunden wurde. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.


Dass Filmemacher:innen nun mehr und mehr versuchen, den Frame eines weißen Mittelerdes aufzuweichen ist ein guter Anfang. Und für uns nicht-Filmemacher:innen überdies sehr bequem, denn wir müssen dafür dann nur noch ins Kino gehen. Dass das aber auf lange Sicht nicht reicht, ist klar. An dem Zimt-Beispiel merkt ihr den Clou bei der Änderung von Konzepten: Ich muss mein Verhalten ändern, um ein neues Konzept in meinem Kopf zu etablieren. Ich muss etwas anders machen, neue Gewohnheiten etablieren. Um SUV-Fahren nicht mehr nur mit „bequem“ und „sicher“ zu verbinden, müssen wir vielleicht mal mit dem Fahrrad quer durch die Daimlerstadt Stuttgart fahren, um am eigenen Leib zu spüren, wie gefährlich diese Dinger für alle außerhalb der SUV-Burg sind. Um Tofu mit „lecker“ zu assoziieren, müssen wir es halt ein paar Mal essen, bis sich unsere Geschmackssinne darauf einstellen. Und um festzustellen, dass nicht jeder migrantische Mensch 24 Stunden am Tag mit einem Messer in der Hose herumläuft, könnten wir einfach mal bei der afghanischen Familie von nebenan klopfen und sich ein Päckchen Zucker oder so ausleihen. Mit der Zeit bildet dann unser Hirn vielleicht eine neuronale „Zucker – netter Plausch – afghanisch“-Einheit.


Wir brauchen also auch Rolemodels, die uns inspirieren. Denn je diverser unsere Gesellschaft wird, desto leichter wird es uns wiederum fallen, Geschlechterkonzepte in unserer Sprache aufzubrechen. Wir brauchen die Bäckerin und die Professorin für Elektrotechnik und einen weißen, deutsch gelesenen cis Typ, der im Kaufhaus das Klo putzt. Wir brauchen Inter*, die sagen „Wir sind auch da!“ und eine Gesellschaft, die ihnen erlaubt Inter* zu sein, sichtbar und erfahrbar für alle. Wenn wir einer intergeschlechtlichen bzw. nicht-binären Person gegenüberstehen, mit ihr interagieren oder über sie sprechen, müssen wir das wissen, damit wir sie nicht automatisch in eine weibliche oder männliche Kategorie einordnen, sondern unser Gehirn ein Konzept jenseits von männlich und weiblich aufbauen kann. Und wer weiß, vielleicht kommen wir irgendwann mit viel reduzierteren Geschlechterkonzepten aus, die unseren Alltag weniger bestimmen. Das ist das, wo Feminist:innen hinwollen.


Gendersensible Sprache zu benutzen ist eine Handlung, die Frames und Konzepte aufbrechen können. Es ist etwas, das wir aktiv tun können, um sämtliche Geschlechterkategorien neu zu framen. Diskriminierungssensible Sprache ist freilich keine Zauberformel, die alle Geschlechterrollen und konstruierte Zuschreibungen mit einem „Puff!“ auflöst. Aber sie ist ein entscheidendes Tool, um die Wechselwirkung von Sprache und Gesellschaft positiv in Richtung Toleranz und Akzeptanz zu lenken. Beides ist wichtig, es sind ganzheitliche (die Akademiker:innen unter euch würden sagen: holistische) Lösung gefragt. Denn unserer Erfahrungen mit der Welt sind grundlegend für unseren Spracherwerb und das Verstehen von Sprache.


Fazit: Also ja, Gendern ist tatsächlich eine Anstrengung. Wie Gewichte stemmen im Fitnessstudio. Nur im Gehirn. Beides macht nicht immer Spaß. Darum lasse ich persönlich das mit den Gewichten und dem Fitnessstudio auch bleiben. Das tolle ist, dass wir beim Training unserer Hirnzellen unsere eigenen Coaches sind. Wir brauchen nicht mal ein Abo oder eine Zehnerkarte oder so. Gendersensibel zu sprechen ist zu jedem Zeitpunkt von jedem Individuum alleine machbar und kann einen riesigen Effekt haben – für das Individuum selbst und für andere. It’s magic! Das kann dein Sixpack nicht, sag ich dir.

Quellen

[i] Lakoff, George / Wehling, Elisabeth: „Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht“, Carl-Auer, 2016

[ii] Rickheit, Gert / Weiss, Sabine / Eikmeyer, Hans-Jürgen: „Kognitive Linguistik. Theorien, Modelle, Methoden“, Francke Verlag, 2010

[iii] Wehling, Elisabeth: „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“, Herbert von Halem, 2016

[iv] Wehling, Elisabeth: „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“, Herbert von Halem, 2016

[v] Wehling, Elisabeth: „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“, Herbert von Halem, 2016

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