Die historische Sprachentwicklung der deutschen Sprache
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Die Geburt des generischen Maskulinums
Befürworter:innen des generischen Maskulinums behaupten oft, das generische Maskulinum sei „Teil der natürlichen Sprachentwicklung“. Was so viel bedeuten soll wie „das war schon immer so und darum gehört das so“. Dass eine Manifestierung des generischen Maskulinums durch Genderverbote und juristische Eingriffe dieser Natürlichkeit zuwiderläuft, scheint ihnen egal zu sein. Dabei ist es der beste Beweis für genau das Gegenteil: Gendern ist natürliche Sprachentwicklung. Und zwar aus folgendem Grund: Weil es existiert.
Was ist das Generische Maskulinum?
Von Magie und Neurologie
Zuerst können wir mit der Fehlannahme aufräumen, das generische Maskulinum sei alt. Der Begriff "generisches Maskulinum" als solches wird erst seit Ende der 1970er Jahre verwendet. Und erst 1995 erwähnte es erstmals eine Duden-Grammatik, womit es Einzug in die Empfehlungen des Rats der deutschen Rechtschreibung fand. Es ist also kein Konzept, auf dem Menschen schon seit Jahrhunderten herumreiten, sondern es existiert als Idee erst seit ca. 50 Jahren. Verglichen mit dem Alter unserer Sprache ist das jung. Extrem jung. Quasi Embryojung.
Aber wie kam es überhaupt dazu? Als die erste deutsche Grammatik geschrieben wurde, gab es extrem viele Dialekte und Soziolekte von jener Sprache, die wir heute „Deutsch“ nennen. Fast jede Region, jede soziale und kulturelle Gruppe hatte ihre eigene Sprache. Heute nennen wir diese Sprachen „Dialekte“. Was wir heute Standartdeutsch nennen, ist nichts anderes als ein normierter Dialekt. Also ein Dialekt, für den grammatikalische Regeln aufgeschrieben wurden, die allgemein anerkannt und umgesetzt wurden – in der Schriftsprache zumindest.
Der Ursprung des Deutschen
Den Dialekt, auf dem unser heutiges Deutsch maßgeblich beruht, nennt die Sprachwissenschaft „Obermitteldeutsch“. Das ist die Sprache, die ungefähr im heutigen Sachsen gesprochen wurde. Dieser Dialekt wurde aus verschiedenen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gründen, gepaart mit einer hübschen Portion Zufall, zur Grundlage für die deutsche Hochsprache erklärt und dementsprechend gestutzt, geformt und standardisiert.
Und was meint ihr, wer sich vorrangig um das Formen, Stutzen und Standardisieren des Deutschen gekümmert hat? Suprise: Es waren Typen! Akademische, weiße, christliche Typen. Die ersten Schreibzentren gab es in Klöstern. Später dann in Städten und Adelszentren. Frauen haben damals selten schreiben gelernt, also waren es logischerweise Männer, die unsere schriftliche Sprache maßgeblich beeinflusst haben. Angefangen mit Martin Luther (geb. 1483) und Martin Opitz (geb. 1628), über die Luther-Fans Johann Gottsched (geb. 1700) und Johann Adelung (geb. 1732), ging es weiter mit den Gebrüdern Grimm (geb. 1785/86 (die konnten mehr als nur Geschichten klauen, um sie als Märchen zu vermarkten)) und mit Schiller, Goethe und den beiden Humboldts (auch alle 18. Jhdt.), bis das „Hochdeutsch“ seinen letzten großen Meilenstein mit Konrad Duden (1829) fand.
Viele dieser Menschen mit Penis, deren linguistischen Konzepte bis heute nachwirken, waren Mitglieder in so genannten Sprachgesellschaften. Das waren patriotische bis nationalistische Clubs, zu denen überwiegend – ratet mal! - Männer gehörten. Frauen, die Mitglied in einer Sprachgesellschaft waren, lassen sich an einer Hand abzählen. Diese Sprachgesellschaften hatten es sich zur Aufgabe gemacht die „Deutsche Hochsprache“ (aka „Ostmitteldeutsch“) zu pflegen, zu formen und zu erhalten. Die bekannteste und größte Sprachgesellschaft war die „Fruchtbringende Gesellschaft“, auch genannt „der Palmenorden“ (die by the way 2007 wieder neu gegründet wurde – das muss der Fortschritt sein, von dem alle reden). Dieser Palmenorden formulierte den Grund seines Daseins so:
„Deren Zweck ist darauf gerichtet, dass man die hochdeutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stande ohne Einmischung fremder ausländischer Worte aufs möglichste und tunlichst erhalte und sich sowohl der besten Aussprache im Reden als der reinsten Art im Schreiben und Reime dichten befleißige.“ [1]
Auf Neudeutsch (frei übersetzt):
Das Hochdeutsch ist eine der heiligsten Sprachen der Welt und wir müssen sie in ihrer Reinheit bewahren und vor ausländischen Einflüssen schützen, damit sowohl Fremdwörter keine Chance haben, als auch die Aussprache möglichst deutsch (aka „ostmitteldeutsch“) bleibt.
Also wem sich noch nicht davor gegruselt hatte, dass unsere Sprache ausschließlich von Männern normiert wurde, diese Person sollte spätestens jetzt skeptisch werden. Für unsere heutige Standartsprache bedeutet es nämlich, dass sie das Ergebnis einer linguistischen Logik deutscher Patrioten ist, die in einer Zeit lebten, in der allgemeinhin der Aderlass zur Behandlung von Krankheiten noch als gute Idee galt. Was diese weißen, nationalistischen, christlichen Typen in ihre Grammatiken, Texte und Wörterbücher geschrieben haben, war die Sprache, die SIE kannten, die aus IHRER Perspektive logisch und richtig war. Und da damals ausschließlich Männer über intellektuelle und politische Macht verfügten, hat das auch niemensch in Frage gestellt.
Die deutsche Sprache ist eine Kunstsprache
Ihr seht, nicht einmal das Deutsche hat sich natürlich entwickelt. Und schon gar nicht hat sie sich auf irgendeine Weise fair und demokratisch entwickelt. Tatsächlich ist das bei so ziemlich allen standardisierten Sprachen der Fall. Das Standarddeutsch ist eine Kunstsprache, aufgebaut auf einem alten, längst toten Dialekt.
Was Luther, Duden und Co. allerdings vernachlässigten war die Normierung der Genera, also der grammatikalischen Geschlechter. Diese kam wie gesagt erst vor kurzem. Genau gesagt ab dann, als Frauen, nichtbinäre Menschen und Queers anfingen, sich selbst gleichwertig zu den Männern in der Sprache abzubilden. Da machte es plötzlich „puff!“ und das Maskulinum wurde „generisch“ und stand im Duden. Was für ein merkwürdiger Zufall. Das generische Maskulinum kann offenbar nicht nur wie von Zauberhand alle Menschen sprachlich zu Männern machen, sondern wurde auch selbst magisch herbeigezaubert – als der queerfeminismus anfing zu dolle zu nerven.
Gendern ist natürliche Sprachentwicklung
Dabei wird aber eine fundamentale Funktion von Grammatiken einfach ausgeblendet: Die beschreibende. Grammatiker*innen holen sprachliche Regeln normalerweise ja nicht aus dem Nichts. Grammatiken beziehen sich auf aktuell gesprochene Sprache und hatten ursprünglich vor allem den Anspruch, diese möglichst präzise abzubilden.
Dementsprechend überholen sich Grammatiken auch ständig und passen sich – zumindest ein Stückweit – der gesprochenen Sprache an. Wenn wir uns also auf die Natürlichkeit von Sprachentwicklung stützen wollen, dann müsste folgendes passieren: Das generische Maskulinum würde mehr und mehr an Bedeutung verlieren, weil Menschen sich mehr und mehr gendergerecht ausdrücken. Und das von ganz allein. Ohne Regel. Genauso wie wir es innerhalb geschätzter 3.000 Jahre geschafft haben, mehr als die Hälfte unserer grammatikalischen Fälle loszuwerden und sie auf eine überschaubare Anzahl von vier zu reduzieren (einmal in der Menschheitsgeschichte was gut gemacht). Das haben wir auch ohne Grammatiken geschafft, weil die gab’s damals noch nicht.
Diese Phänomene passieren ständig, sonst würden wir noch sprechen wir vor 5.000 Jahren (und wer weiß, vielleicht wurde ja damals sogar gegendert). Es passiert ganz einfach, weil wir unsere Sprache unserer aktuellen Umgebung und Realität anpassen. Also das, was mensch allgemeinhin als natürliche Sprachentwicklung bezeichnen kann. Und die Realität besteht nun mal aus mehr als einem (männlichen) Geschlecht. Also wieso die Realität nicht so benennen wie sie ist, in all ihrer Diversität? Wieso plötzlich mit Gewalt in einen Prozess eingreifen, der so alt und stark ist wie die Menschheit? Diesen Kampf können wir nur verlieren.
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Quellen
[1] Fennert, Dana: „Das generische Maskulinum: Ein Auslaufmodell?“, erschienen in „Analyse und Beratung / Monitor – Gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Konrad Adenauer Stiftung, Berlin 2022.
[2] https://www.deutschlandfunk.de/vor-400-jahren-gegruendet-fruchtbringende-gesellschaft-fuer-100.html, zuletzt aufgerufen: 27.07.2024.
[3] „dtv-Atlas Deutsche Sprache“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1978
Meibauer, Jörg (u.a.): „Einführung in die germanische Linguistik“. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart / Weimar 2002.
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